Liebe Japaner,

Sie haben sich im Geschäft nach der besten Schweizer Schallplatte erkundigt und Ihnen ist die neue CD der Gruppe Hertz empfohlen worden.

In der Schweiz ist Hertz, die Band, genau 4999 Zürcherinnen und Zürchern, 3 Aargauern, einem Basler Radiomitarbeiter und der Witwe eines Solothurner Bundesrates bekannt. Hingegen kennen 1'805'987 Einwohner dieses Landes das Lied «Campari Soda» und ganze 319'002 können davon die erste Strophe singen. Was für ein Chor! Und dabei ist dieser Song aus dem Jahr 1977 bloss eine Vorstufe von Hertz. Es ist derselbe Sänger, es ist derselbe Blick übers Land.

Aber das ist wie mit dem Bergsteigen. Je höher man klettert, desto einsamer ist man. Dafür gibt es mehr Überblick. Die Gründung von Hertz war der Entscheid fürs Hochgebirge: Was sich in der Gruppe Taxi mit «Campari Soda» zart andeutet, steigert sich in der Nachfolgeband Hertz zu einer Grösse und Kühnheit, die einem die Lieder als unangreifbare Kette von Viertausendern entgegenstellen.

Vor Ihnen liegen vierundzwanzig Stück. Die ersten drei Nummern (Mit schnellen Schritten, PTT, Astrogramm) führen in die kühle Klarheit der Hertz-Welt ein. Punk ist schon passiert, hier ist - oh oh, oh oh - frühe New Wave, zickig, eckig, willkürlich. Bei Astrogram und Baba Bubu kommen längerer Atem und flüssiger Drive ins Spiel. Danach, bei den Stücken der ersten LP «Hertz», hat die Band zu einer Form gefunden, die einen erblassen und erröten lässt. Blass auf Rot, die Schweizer Farben, mit dem rechten Winkel gezogen. Hertz, darf man annehmen, lieben den rechten Winkel, sie sind Bauhaus, Wanderkarte und das hiesige Unbewusste in Songform.

Gottharddurchstich, lalala lala, ein Schlüsselsong unter Schlüsselsongs. Mitten durchs Massiv, tief tief im Granit durch den Gottharddurchstich. Und wir sitzen stumm die Nase am Fenster, draussen ist es feucht und finster, Mutter, ich glaub, ich sah Gespenster, Vater trinkt Wein, wir rasen durchs Gestein. Während in zeitgenössischen Liedern noch Züri brannte, brennt hier bereits der Gotthard.

Hertz stellen sich dem Kern des Problems Schweiz. Dort, wo der Stein am härtesten, die Verzweiflung am verzweifeltsten und die Freude am grössten ist. Angetrieben von einer Band, die zu allem bereit ist, sogar dazu, wie ein Uhrwerk zu spielen, davon also angetrieben bohrt und bohrt es sich durch den heimischen Granit: Das dringende drängende Singen von Dominique Grandjean, einem jener Nichtsänger, welche wie Bob Dylan oder Jimi Hendrix all die Stimmbandwunder in den Kernschatten stellen.

Das Lied namens Nimmerland sollte die neue Schweizer Hymne sein. Mindestens gehört es in die Lesebücher. Wir, sagt das Lied, halten ein Gelage ab. Einer isst, oh weh, den andern und keiner wird davon je satt. Wir, sagt das Lied, fahren über einen See. Leider können wir nie landen, das Ufer fehlt, oh weh. Und wenn, heisst es in Jodel, die Sonne sich hinter die Bergkante schiebt, der Rhabarber im Gemüsebeet sich im Winde wiegt, gegen Abend, wenn der Kater die Katze liebt. Dann was? Dann heisst es jodeln. Das Herz bei Gott, die Hände tief in der Sackgasse.

Dem Blick vom Gipfel entgehen auch nicht die Feinheiten der Niedertracht: Und mit dem Hut von Dir, setzt er sich dann so neben sie und belächelt sie mit deinem Hut auf dem Knie und mit dem Stock von Dir, spaziert er durch Dein Wohnquartier über Stadt und Land mit Deinem Stock in der Hand.

Die neue CD zeigt alle Phasen jener glücklich kurzen, lang entschwundenen Zeit, wo es Hertz gab. Mit «Willi Ritschard», dem wohl bekanntesten Hertz-Song,

mischen sie sich in die Bundespolitik und singen bundesrätliche Lebensdaten auf Rock. Mit dem todesschwangeren Abendlied «Amsel und Wurm» von der zweiten LP (4 Männer, 1983) behandeln sie vorletzte und letzte Fragen des Menschseins. Und mittels zwei Coverversionen schiesst das Quartett weit über ihr Revier hinaus - in die Hitparade mit Abbas «SOS» und in klassische Kutschen mit «Die Post» aus Schuberts Winterreise.

Mit Hertz findet die Schweizer Nüchternheit zu einer ungekannten Heftigkeit, werden Ausbrüche in Strophen und Refrains komponiert und damit effektiv. Der Effekt ist nachhaltig, heute möglicherweise noch grösser als damals, wo man umzingelt und abgelenkt war von tatsächlichen und vermeintlichen Aktualitäten.

Ich habe für Sie, liebe Japaner, einmal die ganzen 24 Stücke lang nur dem Bass zugehört. Man verfolgt da den noch nicht ganz aufrechten Gang eines Neanderthalers durch den Urwald, die Schritte unbeindruckt, die Hüften zwischen Gefahren und Verlockungen vorwärtsschwingend. Denn nicht vergessen: Auch wir aus der Schweiz stammen vom Neanderthaler ab, sind im Grunde genomme geile wilde Siechen, die quasi unverschuldet in die Lage kamen, für die ganze Welt Musterbuben spielen zu müssen. Aber dieser Topf hat einen mächtigen Sprung, auch das hört man bei Hertz.

Keine Schweizer Band ist so hoch gestiegen wie die da. Nun bietet sie uns, in Form dieser CD, eine Seilbahn an. Auf der Schweiz höchste Gipfel. Mit Blick in ihre tiefsten Schründe. Es gibt hier nichts Besseres. Sagen Sie das den andern in Japan.

Mit schönstem Dank und freundlichen Grüssen:

Ihr Albert Kuhn

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