DIE WALDSTÄTTE

Von Peter Fischer, Katalog „Bilder vom Vierwaldstättersee“, Juni 2006

Der Vierwaldstättersee als symphonischer Klangkörper

Mit offenem Ohr und Herzen machte sich der Musiker Cyrill Schläpfer in der Innerschweiz und dem Appenzellerland auf die Suche nach urtümlichem musikalischem Ausdruck. Der beeindruckenden akustischen Ausbeute von Kuhglockengeläut, Alpsegen rufenden Hirten und ursprünglicher Volksmusik gab er 1993 im ergreifenden Film „Ur-Musig“ eine Form. Mit derselben Leidenschaft und vielleicht noch grösserer Akribie sammelt Schläpfer seit Jahren Klänge und Geräusche vom Vierwaldstättersee. Er ist hier aufgewachsen, der See ist ein Teil von ihm. Als Mensch, der mit den Ohren „sieht“, erkennt er ihn an seinen Geräuschen, seinem Klang. Tausende akustische Sequenzen und Fragmente umfasst sein Klangarchiv heute, mit dem Mikrophon eingefangen und digital aufgezeichnet, sei es frühmorgens am Ufer bei Meggen, sei es mittags vom Balkon der Beletage eines Grand Hotels an der Seepromenade, sei es nachmittags im Maschinenraum des Dampfschiffs „Uri“, sei es nachts auf dem einsam treibenden Ruderboot.

Schläpfer begreift den See als einen grossen Klangkörper, in Schwingung versetzt durch Wind und Wetter, durch die Geschöpfe, die in ihm und an ihm leben oder durch die Betriebsamkeit des zivilisatorischen Lebens. Die Töne, die er selbst von sich gibt, vermischen sich mit den fremden, die es ohne ihn nicht gäbe, die heisere Dampfschiffsirene, die Nebelglocke, das Geräusch der wassernden Ente, Klangfetzen von einer sich am Ufer vergnügenden Festgesellschaft, sie alle gehören untrennbar zum See. Dieses Material verwebt Schläpfer im Tonstudio zu einer grossen Komposition. Die einzelnen Samples dienen dabei lediglich als Rohmaterial. Bevor sie als Klangelemente in die Komposition Eingang finden, unterzieht Schläpfer ihre akustischen Parameter zumeist verschiedenen Manipulationen. So moduliert er ihre Frequenzen, oder er komprimiert oder dehnt ihr Tempo, sodass die schrille Signalklingel des Dampfschiffkapitäns dank extremer Verlangsamung bei gleich bleibender Tonhöhe unerkannt als eine wundersame einfache einstimmige Melodie erklingt.

Schläpfers Vierwaldstätter-Symphonie mit dem Titel „Die Waldstätte“ entsteht im Bewusstsein, dass diesem See nicht losgelöst von Mystizismen und Pathos beizukommen ist. Den Vierwaldstättersee gibt es nur im Zusammenspiel von Natur und Kultur, und ein Höhepunkt dieser symphonischen Komposition liegt denn auch in deren 9. Satz, der ein Dampfschiff im Kreuztrichter, dem Ort wo sich die vier Arme des Vierwaldstättersees treffen, versinken lässt. Dank stupender Tontechnik inszeniert Schläpfer diese Passage in die Unter(wasser)welt als räumliches Ereignis und evoziert dadurch beim Publikum nicht nur ein körperliches Erlebnis, sondern auch bislang ungesehene Bilder.

Copyright © CSR Records