Wundertüte voller behertzter Coolness

von Boni Koller für WOZ, 28.11.2002

Zürichs Stimme der Vernunft

zwanzig Jahre später

Klingende Zeitdokumente aus vergangenen Tagen, die den Nachgeborenen auf CD gebrannt neu angeboten werden, gibt es immer mal wieder. Eine ganz besondere gilt es ab Anfang Dezember zu entdecken: 24 Stücke aus der Liedersammlung der Zürcher Band Hertz, knapp zwanzig Jahre nach ihrem letzten Auftritt.
Die Geschichte in Kürze: Nach dem Studioprojekt Taxi, das erst Jahre später durch den heimlichen Hit «Campari Soda» auch ausserhalb von Zürich wahrgenommen werden sollte, suchten Keyboarder Dominique Grandjean und Gitarrist Ronnie Amsler 1977 zwei weitere Bühnenpartner und fanden diese in Bassist Martin Walder und Schlagzeuger Thomas Wydler (bis zur Auflösung 1984 übernahmen nach Wydler nacheinander Evelyne Müller und Philip Rust den Platz am Schlagzeug).

Hertz veröffentlichten in den sieben Jahren ihres Bestehens zwei viel gelobte LPs und drei Singles und genossen die tiefe Verehrung einer kleinen Fangemeinde. Die Band hatte ihren Platz in der euphorischen Zürcher Szene jener Tage schnell gefunden und inspirierte die ohnehin schon schwer verunsicherte KritikerInnengilde zu der etwas ratlosen Etikettierung «die erste New-Wave-Band der Schweiz». Wenn man sich erinnert, dass Ende der siebziger Jahre bald einmal alles als New Wave galt, was nicht nach Pink Floyd oder ELP klang, ist es nur logisch, dass sich die Band lieber ein etwas aussagekräftigeres Motto zulegte: «Hertz, die Stimme der Vernunft.» Damit diese Stimme auch bemerkt werde, setzten Hertz ihr Manifest als Inserat in die Zeitung. Ein Auszug: «Musik schafft Klarheit und Klarheit berauscht. Der Rausch ist am hellichten Tag. Wir zählen jeden Schlag. Wir glauben an die Zahl. Wir üben jede Woche viermal. Hertz, die Stimme der Vernunft.»

Flott genug für die Punks

Auf der Bühne kam diese Vernunft so diszipliniert daher, dass der Wahnsinn erst recht mit im Spiel zu sein schien. Ich habe Hertz zwischen 1978 und 1981 mehrmals gesehen, denn damals war es einfach selbstverständlich, hinzugehen, wenn im scheintoten Zürich ein Konzert stattfand und jenseits von Good News und Free & Virgin erschwingliche Abendunterhaltung geboten wurde. Vor dem Sommer 1980 war die Punkszene ein lustiger, pfadiähnlicher Haufen, der immer recht vollzählig zu den wenigen «Grossveranstaltungen» irgendwo in der Schweiz reiste und erst recht keinen Anlass in der eigenen Stadt verpasste. Ich glaube, es war im Restaurant Concordia im Niederdorf, wo ich Hertz im Doppelkonzert mit Kleenex zum ersten Mal sah. Der Saal war voll besetzt, allerdings standen darin Tische und Stühle, um das Tanzverbot besser durchsetzen zu können.

Schwungvoll ging es los in deutscher Sprache. Die Lieder, die dargeboten wurden, waren aber weder liebeshungrig noch zornig, sondern wühlten mit kühler Genauigkeit im glanzlosen Schweizer Alltag. Und da Langeweile und Harmlosigkeit mein Leben selten höher dosiert vergifteten als zu jener Zeit, lauschte ich wie der Rest des Publikums hingerissen den Wortfetzen, die im Lärmpegel der Instrumente gerade noch zu verstehen waren. Bei aller Sprachverliebtheit war die Musik eben doch laut und flott genug, dass selbst Punk-Puristen zu stänkern vergassen.
Besungen wurde das nicht gerade spektakuläre, aber unerbittliche Wirken eines Schalterbeamten bei der Post, damals noch PTT genannt und im Lied stark nach Etepetete klingend, die verschwommenen Gefühle eines eiligen Stadtmenschen oder der zuweilen lästige Einfluss der Sterne auf unser Schicksal. Wohl vermochten Trommeln und Gitarre das Ohr mit ausgeklügelten Rhythmen und Melodien zu erfreuen. Am eindrücklichsten aber war die Stimme des Keyboarders, die sich vom nüchternen Erzählton bis zu hysterischen Refrains hinaufschraubte. Nach der Aufforderung «Hau mal auf den Ball» folgte plötzlich «S.O.S» von ABBA. Die schwedische Hitfabrik war der Inbegriff dessen, was ich verachtete, aber die Version von Hertz fegte alle Vorbehalte weg.

Kein Herz für Soli

Veit Stauffer von RecRec beschreibt Hertz rückblickend als «die perfekte Mischung aus Kraftwerk und Ramones». Ebenso könnten sie auch als Vorläufer der Neuen Deutschen Welle gelten. Ähnliche Qualitäten wie deren beste Exponenten besassen sie allemal, und sie wagten sich an deutschen Gesang, bevor dies durch Gruppen wie Ideal allgemein salonfähig wurde. Trotzdem (oder vielleicht gerade deshalb) blieben die Plattenverkäufe vergleichsweise bescheiden, und die Deutschlandtour 1982 musste sogar wegen mangelnden Publikumsinteresses abgebrochen werden. Nicht viel besser liess sich ein Jahr später die Migros-Tournee durch die Schweiz an. Dass sich in der «Basler Zeitung» ein Kritiker über Gitarrist Ronnie Amsler beklagte, weil «der sich nie ein Herz für ein Solo fasste», war sicher gut zu verkraften, weit weniger hingegen die Tatsache, dass an vielen Stationen die Säle leer blieben.
Dabei hatten Hertz unterdessen diverse Knüller im Programm, darunter die Hymne über den Schweizer Working-Class-Hero Willy Ritschard. Das Lied ist eine Frechheit der besonderen Art: Dominique Grandjean zitiert völlig wertfrei aus dem offiziellen Lebenslauf des SP-Bundesrates, ohne eine Ausbildungsstufe oder ein Amt auf seinem politischen Werdegang auszulassen. Der entsprechend sperrige Text gipfelt im Refrain: «Willy Ritschard, Sohn des Ernst und der Anna Ritschard, Sozialdemokrat, volksnaher, charismatischer Magistrat, liebt das Wandern, liebt Gespräche.» Der aufrechte Willy Ritschard war gewiss kein Feindbild, aber als Identifikationsfigur der Aktivdienstgeneration taugte er auch nicht so recht zum Pop-Helden, und genauso war im Lied von Hertz weder eine Parteinahme für noch gegen ihn feststellbar. Wohl gab es schon immer nihilistische Poesie, die das Rezitieren von Telefonbüchern oder Speisekarten zelebrierte, aber die Karriere eines Politikers hatte bisher noch kaum jemand in solcher Art besingen wollen. Die Single erregte Aufsehen und war nach 18 Uhr regelmässig im «Sounds!» auf DRS 2 zu hören.

Die Schaffhauser Band Der Böse Bub Eugen veröffentlichte 1988 nach ähnlichem Rezept ein Lied über den Skirennfahrer Pirmin Zurbriggen. Der Text über Pirmins schönes Lachen und seine Papstbesuche hüpfte allerdings weit deutlicher zwischen übertriebenem Lob und leisem Spott hin und her. Die Schaffhauser, die ebenfalls gern in deutscher Sprache Alltagssituationen vertonten, waren in ihren Anfängen so stark von Hertz beeinflusst, dass sie sogar ein ganzes Album nach dem Hertz-Titel «Nimmerland» benannten.

Beim Anhören des Hertz-Albums werden natürlich Erinnerungen wach. Der nachhaltigere Effekt aber ist, dass einem 24 eigenartige Lieder begegnen, die bis heute nur wenig von ihrer Spannung verloren haben. Der «Jodel» von Hertz wird so lange funktionieren, wie es Katzen gibt und Rhabarber wächst. Und dies macht die CD auch für unvorbelastete Generationen zur lohnenden Wundertüte.

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