Porträt Cyrill Schläpfer

von Albert Kuhn für 'Du' 7/1993

 

Er ist ein Ur-Schweizer. Trocken, abwinkend und schwierig. Dem Spektakulären abgrundtief abhold. Begeisterungsfähig aber dann ja kes Wäses drum mache. Er wandert über Stock und Stein, lieber hinauf als hinunter, im Rucksack Bier und Chääsbrot. So richtig auf der Schnorre dann zu picknicken, das ist dann rüdig das Grösste. Er sagt aber nicht rüdig, er fängt den Satz an, bricht ihn aber halb ohnmächtig wieder ab. Nur keine Beschreibungen von Empfindungen, nur keine Adjektivlyrik, bloss e kes Wäses. Im Abbrechen und Abwinken eher noch ein Anflug von Ärger, weil man es fast zu sagen versuchte. Äh bah.

Jetzt sitzt er allerdings vor einem grossen MacIntosh und flucht. «Dä Dräckcomputer. Zerscht isch er so brav gsii di erschte zwöi Woche und jetzt plötzli ERROR - zwöl Schtond Arbet ewägg.» Schläpfer vertont hier seinen Film. «Ur-Musig» soll er heissen, gedreht ist er bereits, nun soll mit diesem Dreckscomputer eine Auswahl aus achtzig Stunden Schläpferschem Tonmaterial stimmungsperfekt und hundertstelgenau dazukommen. «Das ist meines Wissens der erste volldigital vertonte Dolby-Stereo-Film der Schweiz», meint der Tontechniker stolz. Aber Cyrill Schläpfer ist nicht ums Plagieren. «Also Kontrolle: zerscht Polka, dann Alphorn trocken und Züri-Ernscht.» Und zu mir gewandt: «Das sind zwei Alphörner, auf eins muss dann noch ein Hall drauf.» Der Tonmeister klickt an. «Jetzt chond , 47.08, de gohd dore bis 49.47. Rössli 47.40 bis 47.50.» Der Dreckscomputer wiehert brav. «Jetzt das Kühetauchen 50.13 bis ... ouh, das wäred aber Glogge, ich Aff. Mues es nomol ha.» Der Tonmeister klickt nomol, den Blick locker gestresst auf die Musik, die in Form von dunkelgrauen Streifchen auf dem hellgrauen Bildschirm... ja, was denn? Dargestellt ist? Vorkommt? Anhält? Das vielleicht. Die Musik rückt kurz vor und hält wieder an. Es läuten die Glocken.

«Jetzt interessiert mich Sturheit», sagt Cyrill, als wir uns im nahegelegenen Spunten ein tröstendes Bier genehmigen, und schaut mich an. Sturheit überrascht nicht. «Ich verstoh die andere nümme. Da gab's am Fernsehen eine , da haben die sich die Jungen und Schönen einen Abend lang Jeans-, Pulli- und Gummi-Fernsehspots reingezogen, und ein Designer-Philosoph hat das unglaublich globale Feeling dieser Jugend hervorgehoben. Ich habe etwas Mühe mit dieser Art von Offenheit. Leute aus dem Muotatal, die noch nie in Luzern oder Zürich waren, interessieren mich viel mehr. Ein Leben lang den gleichen Berg anschauen, das Vertraute schätzen, sich abgrenzen können.»

1966 Primarschule in Luzern, dann Kantonsschule, Matura Typ B, errare humanum est, dann ETH Zürich, Abt. Architektur. Der Architekt winkt ab: «Ha gmeint, das heig öppis mit Zeichne ztue.» Nach zwei Semestern sei es dann klar gewesen - klipp und klar und fix und fertig mit Studieren. Im 1980 dafür ein halbjähriger Sprachaufenthalt an der US-Westküste. «Ich ging dann Richtung Mexiko runter, da sind Dinge passiert - also das war vielleicht die beste Zeit meines Lebens. Das war's vermutlich.» Toll, denkt der Interviewer, da sind wir also bereits bei der Schlüsselszene, und zückt verzückt den Stift. Aber der Abwinker winkt ab. «Nein, es ist nichts Spektakuläres, es war einfach ... nicht, was du denkst.» Aha. «Ich erzähl's dir ein andermal.»

Weiterzeichnen an der Kunstgewerbeschule Luzem, Vorkurs. «Na ja, da ging's mir wohl zu gut, ich war ein enfant terrible, ha's de glaub scho chli uusglootet.» Nach einem Jahr kam die Quittung: «Aber Sii, Herr Schläpfer, Ihri Arbetsmappe isch echli gar dünn.» Die Kunst scheiterte an ein paar Zentimetern.

Nun sprang Cyrill kopfvoran in die Musik. Schon als Bub habe er wie vergiftet getrommelt, zehn Jahre Tambour, bei Alder Hackbrett gelernt (Schläpfers sind gebürtige Appenzeller) und seine ganze Jugend am Schlagzeug verklopft. Neben Taxischichten und etwas Musikunterricht widmete sich Cyrill nun ganz den X-Legs, seiner Reggae-Band. Es war die muntere, konzertfreudige Zeit der frühen Achtziger Jahre. Aber Cyrill meinte es wohl ernster als die andern. «Ich wollte alles! Voll! Den ganzen Weg!» Die andern jedoch machten X-Beine, zögerten, sahen es einfach anders. Da löschte es Schläpfer ab, er löste «Boston einfach».

Das Berklee College of Music hat schon manchen in den Wahnsinn getrieben. «Man stelle sich vor: Dreieinhalbtausend Musiker aus aller Welt mit all ihren Egos und Ambitionen, da war schon die Einteilung ein Graus. Und dann folgte eine Hardcore-Büfflerei, eine Secklerei - die spinnen einfach, die Amerikaner. Ich war einer von siebenhundert Schlagzeugern! Andererseits war es auch ansteckend - die wollten es wirklich alle wissen. Via Drums, Electronic Music und Film fand ich aber meinen Weg zur Sparte Musikproduktion, habe mich da dureknüület und abgeschlossen.»

Dann riss es den Urschweizer zurück in die Heimat. In die Berge. «Mit dem Rucksack in der Innerschwelz oder im Säntisgebiet unterwegs zu sein - da bin ich einfach selig.» Nun war der Säntis noch da, aber der Wanderer war ein anderer. Massachusetts hatte ihn verändert, er kam mit seinen Musikkollegen nicht mehr zrank, war völlig auf dem Berklee-Drill, und er, der Hackbrettspieler, der Reggae- und Jazzdrummer, stampfte nun eine Country-Band nach der andern aus dem Boden. «jo, aber weisch. ..» Schläpfer knurrt ohnmächtig. «De lauft nach ein erschte Gig de Sänger fort, suechsch e neue, wider es halbs johr üebe und meche - ond de gohd dä de au.» Das stinkt ihm grauenhaft: Halbengagement und Halbheiten überhaupt.

Auch «jobmässig» kam er zur Welt. Es preichte ihm eine Stelle in einer grossen Plattenfirma in Zürich. Die Bilanz seiner Erfahrungen: «I de Musiginduschtrie söttsch ned schaffe, wenn d Musig gärn hesch.» Punkt. Sein Schlagzeug sei verkümmert, er selber sei krank geworden, offenbar habe man ihn als eine Art Produktionscomputer mit Berklee-Software angesehen, einer, der genau wisse, wie's geht und wie's läuft - und natürlich geht's und läuft's immer nur auf eine ganz bestimmte Art. Doch wenn die Not am grössten, ist Rees am nächsten. In seinem letzten Monat im grossen Schallplattenbusiness stiess Cyrill Schläpfer auf eine eigenartige, bekannte Musik: Schwyzerörgelimusig mit einem unerhörten Takt, einem Beat, einem Groove eben. «Es hed mi wi aagrüert.» Das war der Muotathaler Rees Gwerder, die Schwyzerörgelilegende der Innerschweiz, ein Mann in den Achtzigern. Schläpfer fand nun jemanden, der Gwerder kannte und ihm versprach, ihn einmal auf den Gängigerberg über dem Zugerseee mitzunehmen. Da seien sie also in der Abenddämmerung vor Gwerders Heimat gelangt, und sein Bekannter warnte Cyrill, er möge Rees ums Himmels willen nicht etwa siezen. Die Stube war dunkel. «Sali Rees!» In einer Ecke glimmte eine Pfeife auf. «Sali!» Das war er. In der nächsten Viertelstunde schwieg man sich aneinander heran, dann machte Rees Licht. «Du wotsch also Schwyzerörgeli schpile! Hesch überhaupt Musigghöör? Ech mache de nüd langi Tänz.» Cyrill hatte noch nie einen Quetschbalken in der Hand gehabt, nahm aber allen Mut zusammen und machte eine erste Lektion ab. Es war eher eine Lektion in Sturheit. Und wickelte sich folgendermassen ab: «Rees fing einfach an zu spielen. Spielte immer und immer wieder dasselbe Stück und dann nicht etwa pädagogisch langsam. Wird er mir wohl etwas erklären? Oder sollte ich einfach mitspielen? Schliesslich meinte er: » Nur ganz spärlich kamen Anweisungen, nach zwei Monaten zum Beispiel: «Ich säg's zom letschte Mol, jetz nimmsch di huere Orgele ufs lingge Bei!» Und als Cyrill einmal munter fragte, wo unter all diesen Knöpfen überhaupt das «B» läge, fuhr ihn der Meister an: «Esone huere Schissdräck go froge! Muesch mer gar nümm cho, wenn d'so Züüg frogsch.» Seit dann spielen die beiden jede Woche einmal zusammen.

Cyrill hatte seinen Meister gefunden. Der Meister - das war ja früher etwas. Heute gilt das als überholt, die Zeit kommt sich modern vor, dabei schneidet sie sich selbst ein Bein ab. Cyrill jedenfalls entdeckte immer mehr an Rees' Spiel. Erst mal seine überaus ökonomischen Bewegungen, da schleipfen und schlirggen die Finger über die Tasten aber die scheinbare Nachlässigkeit bringt den vollen Klang und eine unglaubliche Raffinesse. Dann das sogenannte Saagen: Den Tonknopf halten und den Balg ziehen und stossen ist schon lange unpopulär, ergibt aber andere, an nordische Klänge erinnernde Tonfolgen. Mit der Zeit realisierte Cyrill, der den cleanen Studioräumen und ihren Effektgeräten schon immer misstraute, dass Rees' Stube mitklang wie ein Geigenkasten: Tische, Stühle, Fenster, Wandschrank, die knarrende Diele und die Heiligebildli. Hier, genau hier müsste man Rees aufnehmen, an dem Ort, wo er am meisten spielt. «Da magsch du doch nüd gsaage!» war der erste Bescheid auf dieses Ansinnen. Schläpfer pickelte weiter und insistierte: «Hier, inklusive Guggerzyt und Brissago!» Das brachte den Umschwung. Wo kein Rauch ist, ist kein Feuer.

Die Aufnahmen brachte Schläpfer auf seinem eigenen «SCHWING»-Label und seiner Ein-Mann-Plattenfirma CSR heraus: zwei CDs mit Rees Gwerder und seinen Mitmusikern, eine mit Walter Alder und eine Zäuerli-Sammlung, aufgenommen bei minus 15 Grad im Appenzellischen. Alles Aufnahmen an Originalschauplätzen, die Zäuerli-Schuppel selbstverständlich mit aufgesetzten Masken. «Die Wucht des Authentischen» rezensierte die «Weltwoche», und MusikfreundInnen aus allen Ecken befanden, so, ja so erscheine ihnen die Schwyzerörgelimusik plötzlich plausibel. Denn nichts ist und tönt so grässlich wie sterilisierte Natur. Der Hackbrettspieler, Schwyzerörgeler, Musikproduzent, Schallplattenfirmabesitzer und Jazzschlagzeuger filmt auch noch. Begonnen hat er mit sechzehn Jahren und Super 8, es folgten mehrere Kurzfilme mit wechselnden Teams - darunter «Die Drecksau» 1977, «The Big Zipper» 1980, «Boston» 1983, dann «Vermont», «USA I und II», ab 1985 Flugfilme und Landschaftsdokumentationen. Das Drehbuch zu «Ur-Musig» stammt aus dem Jahr 1989 - koinzidiert also mit dem Jahr von Schläpfers Wiedergeburt im Zeichen der Schwyzerorgel. Hauptfigur: Rees Gwerder. Gespannt und wohl auch ängstlich schob Cyrill dem Rees dann einmal das Drehbuch über den Tisch. «Wasch das?» - «Dasch jetz de Film.» Nach einer Woche kam das Buch retour. Er habe es vo zvordrischt bes zhendrischt gelesen, meinte Rees: «Und jetz säg dr eis: Jetz machsch das genauso, wie du's im Grind inne hesch und lass der vo niemertem d Schnotze drii hebe!»

Das war guter Rat. Denn fast alle, die mit dem Projekt zu tun bekamen, versuchten den Autodidakt davon zu überzeugen, dass es so natürlich nicht ginge. «Wi wänd Si das umsetze, Herr Schläpfer?» Umsetzen heisst ja, eine Sache so zurechtzustutzen, dass sie am Fernsehen den freien Platz zwischen zwei Werbeblöcken so füllt, dass niemand zu sehr belastet oder erfreut wird, denn für die finanzielle Belastung und die emotionalen Hochs gibt es ja eben die TV-Spots. Dass Schläpfer trotzdem kilometerweise Film und DAT-Bänder voll alpiner Stimmungen und Tönen aufzuspulen begann, ist etwa derselbe Wahnsinn wie seine Plattenfirma: Er macht es vor allem, weil es sonst niemand macht. Eine Mischung von Bergwanderung und mit dem Kopf durch die Wand.

«Man muss das jetzt filmen, ich sag' dir, das geht immer schneller, überall rupfen sie die alten Scheunen ab, die alten Häuser, das geht in einem Tempo vorwärts ... es regt mi eifach masslos uuf, wenn's Züüg eso obenabegschlisse wird. Dann sagen die anderen, Schläpfli, nimm's e chli locker, ja ja.» Es regt ihn auch auf, dass er keine neuen Wanderschuhe bekommt, die nicht vor lauter Neonfarben die Gemsen verscheuchen, und dass ihm kein Schuhmacher die alten flickt. «Jetzt schriibsch de, de Schläpfer regt sich uf wäge Wanderschueh.» Klar. Einer von Schläpfers nächsten Klangkörpern heisst Christine Lauterbrug und ist eine beliebt-berüchtigte Jodlerin aus Bern. Sie hat ihm einmal ins Hackbrett hineingesungen, das hat ihn überzeugt. Und eines seiner nächsten Mikrophon-Open-Airs ist eine Serie mit Jahreszeiten-Geräuschen. Zukunftmusik.

Beim Austrinken findet Schläpfer, früher, in der Schule noch, da sei er ein Luuscheib gewesen - jetzt aber sei alles so kompliziert und unmöglich. Berklee habe ihm wahrscheinlich mächtig eins auf den Deckel gegeben. Eigentlich wäre er ein geselliger Mensch, aber er komme einfach nicht mehr dazu. Dafür spricht er seit kurzem wieder mit seinem Schlagzeug und tambourt seine Wohnung voll.

Aber zuerst muss vor allem einmal der cheibe Film fertig werden. Auf dem Bildmonitor zieht ein Alpaufzug durch den Schnee, Totale, ein mächtiger Hang, eine dünne, belebte Linie von Männern und Viechern. «Dumme Chog», ruft einer, und ein Rind bimbelet zurück in die Reihe. Auf dem Dreckscomputer sorgt Schläpfer für die fragil perfekten Anteile von Wind, Glöggli, Bach, Chüe, Pflotsch und Bedächtigkeit.

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